In den letzten Jahren hat „FemTech“ viel Aufmerksamkeit erregt, und der internationale Markt für sexuelle Wellness-Produkte ist kontinuierlich gewachsen. Dennoch ist Sex für viele immer noch ein Tabuthema. Die umfangreichen Herausforderungen, denen sich das japanische Sexual-Wellness-Unternehmen TENGA in seiner täglichen Arbeit stellen muss, spiegeln diese gesellschaftlichen Vorurteile deutlich wider. In unserem aktuellen Deep Dive Interview sprachen wir mit Satoshi Chatani, dem Geschäftsführer der TENGA Europe GmbH, der europäischen Niederlassung des Unternehmens, das Ende des letzten Jahres insgesamt über 100 Millionen Produkte ausgeliefert hat. Von der Gründung des Unternehmens über den Vergleich zwischen dem japanischen und dem deutschen Markt bis hin zur Zukunft – Satoshi Chatani hat uns offen seine Herausforderungen und Gedanken mitgeteilt.
J-BIG: Herr Chatani, können Sie bitte Ihr Unternehmen vorstellen? Für diejenigen, die TENGA noch nicht kennen.
Satoshi Chatani: Unser Geschäft besteht aus zwei Hauptsäulen: Erstens entwickeln, produzieren und verkaufen wir Produkte für sexuelle Wellness und Gesundheit. Zweitens klären wir die Menschen über Sex und Krankheitsprävention auf. Wir bieten eine breite Palette von Produkten an, die sicher, hygienisch und funktionell sind und gleichzeitig stilvoll aussehen. Dabei achten wir darauf, Produkte zu entwerfen, die sich deutlich von herkömmlichem Sexspielzeug unterscheiden, so dass sie gut sichtbar in Räumen platziert werden können, entweder passend zur Inneneinrichtung oder als Dekoration.
Dieses innovative Design ist ein Grund für den hervorragenden Bekanntheitsgrad in Japan: 85,7 Prozent der Männer und 63,4 Prozent der Frauen kennen unsere Marke. Der Firmenname selbst leitet sich vom japanischen Wort „TENGA“ ab, was so viel wie „elegant und raffiniert“ bedeutet. Der Name steht für unser Engagement für Qualität und unser Bestreben, das Image der Branche zu modernisieren.
Unsere Vision hat sich seit der Gründung nicht geändert. Wir wollen das Thema Sex sichtbarer machen und zu etwas machen, das jeder genießen kann – mit dem Ziel, dass wir alle offen darüber sprechen können. Zu diesem Zweck haben wir uns auch als Unternehmen verpflichtet, an vorderster Front zu stehen und die Initiative zu ergreifen, um die richtigen Informationen zu verbreiten. Unser Hauptsitz befindet sich in Azabu-Juban, einem Stadtteil von Tokio mit einem ziemlich glamourösen Image. Unser europäisches Büro in Düsseldorf befindet sich in der Immermannstraße, einem sehr lebendigen Viertel, das auch als „Little Tokyo“ bekannt ist. Unser CEO legt sehr großen Wert auf den Standort des Unternehmens.
J-BIG: Was ist die Gründungsgeschichte von TENGA?
Satoshi Chatani: Bevor unser CEO Koichi Matsumoto TENGA gründete, arbeitete er als Mechaniker für Supercars und Oldtimer. Eine Zeit lang war er auch Verkäufer von Gebrauchtwagen. Er konnte jedoch seine Sehnsucht nach „monozukuri“ (eigenes Meisterstück) nicht unterdrücken und beschloss mit Anfang 30, sein früheres Unternehmen zu verlassen. Unser CEO ist ein kreativer Mensch mit großer Schaffenskraft. Er ist auch eine Führungspersönlichkeit mit einer großen Vision. Er hatte verschiedene Geschäfte wie Elektronik-, Schreibwaren- und Baumärkte besucht, um Ideen für seine neuen Produkte zu sammeln, als er sein eigenes Unternehmen gründete. Dabei dachte er bei sich selbst: „Ich und alle meine Freunde um mich herum masturbieren gerne. Warum sind wir also so resistent gegen Produkte, die für diesen Zweck hergestellt werden?“ Von da an begann er, Produkte für die Masturbation zu erforschen, entwickelte Prototypen und gründete im März 2005 das Unternehmen TENGA. Heute entwickeln wir weiterhin Produkte, die den Menschen ein noch nie dagewesenes Gefühl der Befriedigung vermitteln. Dieses Ziel verfolgen wir derzeit mit rund 200 Mitarbeitern, die für die gesamte globale Gruppe arbeiten.
J-BIG: Bitte erzählen Sie uns mehr über die Produkte von TENGA.
Satoshi Chatani: Unser Ziel ist es, Produkte und Dienstleistungen für alle Arten von Menschen anzubieten, unabhängig von Geschlecht, Alter (sofern angemessen), Sexualität, ethnischer Zugehörigkeit oder körperlichen Fähigkeiten, sowie Produkte für den Einzel- und Paargebrauch. In Japan verkaufen wir auch Kleidung, Energydrinks und Kondome. Obwohl der Kundenstamm in erster Linie aus jungen Leuten in den Zwanzigern und Dreißigern besteht, richten wir uns im Grunde genauso an Senioren. Tatsächlich berichten 60 Prozent der von uns befragten Menschen über 60 von einem hohen Maß an sexuellem Appetit. Es gibt also auch in dieser Altersgruppe eine große Nachfrage.
Für Männer bieten wir zwei Arten von Produkten an: einweg- und wiederverwendbare Artikel. Das bekannteste Produkt ist der „Original Vacuum Cup“, ein Einwegprodukt. Dies kam im Juli des Gründungsjahres auf den Markt und war mit insgesamt 1 Million verkauften Einheiten in nur einem Jahr ein Hit. Die wiederverwendbaren Produkte, die später auf den Markt kamen, sind hygienisch, da sie leicht mit Wasser gewaschen und getrocknet werden können. Viele von ihnen sind hochfunktional, so dass man zum Beispiel die Saugkraft oder die Temperatur steuern kann. Über Lizenzvereinbarungen verkaufen wir auch Produkte mit Motiven von Künstlern wie Keith Haring. Für Menschen mit körperlichen Einschränkungen, die z. B. eine schwache Griffkraft haben und nicht masturbieren können, haben wir außerdem Selbsthilfegeräte entwickelt, die es ihnen ermöglichen, unsere Produkte auch mit ihrer geringeren Griffkraft zu bedienen.
Die Produktserie „iroha“ für Frauen wird von unseren Mitarbeiterinnen unter dem Motto „Japanische Modernität“ entwickelt und gestaltet. Das japanische Wort „iroha“ ist ein Synonym für die Buchstabenfolge „abc“ im Alphabet. In Europa sind 80 Prozent der dort angebotenen Produkte für Frauen, während in Japan das Verhältnis umgekehrt ist und die meisten Produkte für Männer bestimmt sind. Der Markenname für die weibliche Produktlinie wurde gewählt, um den Wunsch widerzuspiegeln, Masturbationsprodukte für Frauen in Japan so zugänglich und vertraut wie möglich zu machen. Die Produkte sind hautfreundlich mit einer glatten Silikonoberfläche und bieten ein weiches, gepolstertes Gefühl mit unserem einzigartigen „Pudding-Gel“-Material, die beide zusammen ein intimeres Gefühl für den Benutzer vermitteln.
Der kürzlich auf den Markt gebrachte Einwegartikel „iroha petit“ wird aus umweltfreundlichen Materialien wie Wasser und Agar (Seetang) hergestellt. Andere Produkte können über einen langen Zeitraum verwendet werden, indem die Batterien aufgeladen oder ausgetauscht werden.
„Sex wird derzeit immer noch als Tabuthema angesehen. Ich denke, das ist ein generelles Problem in Japan und Europa.“
In Japan entwickeln wir auch Gesundheitsprodukte, die im medizinischen und sozialen Bereich eingesetzt werden, zum Beispiel unsere Trainingsprodukte wie der „Men’s Training Cup“. Dies ist ein Trainingsgerät für Menschen, die unter vorzeitiger oder verzögerter Ejakulation leiden, die durch Probleme wie unsachgemäße Masturbation verursacht werden kann. Und wir haben den „Timing Trainer“, der die Kontrolle über die sexuellen Körperfunktionen stärkt. Die „Men’s Loupe“ ist ein Produkt zur Verwendung mit Smartphone und einer dazugehörigen App, mit der Männer ihr Sperma beobachten und ihre eigene Fruchtbarkeit überprüfen können. Darüber hinaus haben wir 2019 eine Website zur Sexualaufklärung „Seicil“ ins Leben gerufen, die Informationen für Schüler der Mittel- und Oberstufe bereitstellt.
Sex wird derzeit immer noch als Tabuthema angesehen. Ich denke, das ist ein generelles Problem in Japan und Europa. Wenn wir offen über sexuelle Themen sprechen können, kann dies auch zur Früherkennung von Hodenkrebs und Erkrankungen des sensiblen Bereichs führen. Wir wissen also, wie wichtig es ist, Möglichkeiten zum Informationsaustausch zu schaffen. Unsere Produkte werden bereits für sexuelle Trainingsmaßnahmen eingesetzt. Sie helfen Patienten, nach einem Schlaganfall oder anderen Vorfällen wieder ein Gefühl für Stimulation zu bekommen. Deshalb führen wir auch jedes Jahr Forschungsarbeiten in Zusammenarbeit mit Universitäten und Krankenhäusern in Deutschland und anderen Ländern wie Spanien und Belgien durch.
J-BIG: Werden alle japanischen Produkte auch im Ausland verkauft?
Satoshi Chatani: Ja, fast alle. Im Grunde importieren und verkaufen wir weltweit die gleichen Produkte aus Japan. Insgesamt haben wir 205 Produkte in Japan und 154 in Europa, und das Verkaufsverhältnis zwischen Japan und dem Ausland ist fast 50:50. Unter den ausländischen Märkten sind die USA und China die größten Märkte, auf denen sich unsere Einwegprodukte am besten verkaufen. In Europa hingegen entscheiden sich viele Menschen für unsere wiederverwendbaren Produkte und solche, die aus umweltfreundlicheren Materialien hergestellt sind, da sie ein höheres Umweltbewusstsein haben.
J-BIG: Wie hat sich Ihr Geschäft in Deutschland entwickelt?
Satoshi Chatani: Im Jahr 2018 wurde die TENGA Europe GmbH in Düsseldorf gegründet. Wir haben derzeit 10 Mitarbeiter, inklusive Außendienst, und beliefern von unserem europäischen Standort aus 35 Länder. Bevor wir das Büro eröffnet haben, waren die Vertriebsaktivitäten 10 Jahre lang an Handelsvertreter ausgelagert. Erfreulicherweise wuchs unser Geschäft und die Zahl unserer Handelsvertreter stieg auf 19. Mit der Zeit wurde es jedoch immer schwieriger, unsere Vertriebskanäle zu verwalten, so dass wir zu der Erkenntnis gelangten, dass wir eine eigene Gesellschaft hier vor Ort brauchten. Schon damals deckten die Vertriebshändler mehrere Länder ab, und die Herausforderung bestand zum Beispiel darin, dass die Produkte zu unterschiedlichen Preisen verkauft wurden, was ein gewisses Maß an Preiseinheitlichkeit erforderte. Diese Unterschiede zu beseitigen, war meine erste Aufgabe, als ich in das Unternehmen eintrat.
Derzeit verkaufen wir weiterhin über einige wenige Vertriebshändler an Geschäfte für Erwachsene, während wir den Direktverkauf an Amazon und andere Online-Händler, Drogerien, Tankstellen, Kaufhäuser, Kliniken und andere allgemeine Vertriebskanäle ausbauen. Der Jahresumsatz in Deutschland macht etwa ein Viertel unseres europäischen Gesamtumsatzes aus.
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J-BIG: Haben Sie das Gefühl, dass Europa offen ist für das Thema Sex?
Satoshi Chatani: Ich habe den Eindruck, dass die Menschen in Spanien und Frankreich in Europa besonders offen sind. Deutschland, das dafür bekannt ist, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg mit Beate Uhse den ersten Erotikladen der Welt eröffnet hat, ist natürlich auch ein Vorreiter in diesem Bereich. Allerdings gibt es nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern noch eine konservative Stimmung.
J-BIG: Warum haben Sie sich entschieden, ein Büro in Deutschland als Europazentrale einzurichten?
Satoshi Chatani: Als wir zum ersten Mal nach Europa kamen, haben wir Berlin, London, Amsterdam und Paris in Betracht gezogen, mussten aber überall hohe Hürden überwinden, um einen Mietvertrag unterschreiben zu können. Letztendlich haben wir uns für Düsseldorf entschieden, weil ich selbst seit mehr als 30 Jahren in Deutschland lebe und das Netzwerk meines früheren Arbeitgebers nutzen konnte. Ein weiterer wichtiger Faktor war die Tatsache, dass die Stadt fast in der Mitte Europas liegt und als sehr verkehrsgünstig gilt. Glücklicherweise bekam ich auch Hilfe von Freunden. Wir durften einziehen, weil TENGA einen stilvollen Ansatz verfolgt; nicht nur bei der Büroeinrichtung, sondern beim gesamten Branding.
J-BIG: Wie arbeiten Sie mit Japan zusammen?
Satoshi Chatani: Die Rolle Europas besteht im Wesentlichen darin, über Verkaufsaktivitäten und Marktforschung zu berichten, aber der Umfang unserer Arbeit hat sich mit dem Wachstum der Verkäufe in Übersee allmählich erweitert. Vor der Corona-Krise reiste ich zweimal im Jahr nach Japan, um an Management- und Strategiesitzungen teilzunehmen, aber das hat sich in den letzten Jahren geändert. Außerdem haben wir für einige Mitarbeiter der deutschen Niederlassung das Home-Office eingeführt.
Im März dieses Jahres konnte ich endlich wieder Japan besuchen. Ich hatte das Glück, dass ich einen Tag nach Aufhebung der Quarantänebeschränkungen einreisen konnte.
J-BIG: Haben sich durch die Corona-Krise noch andere Dinge geändert, abgesehen davon, dass Sie lange Zeit nicht nach Japan zurückkehren konnten?
Satoshi Chatani: Da die Zeit, die wir zu Hause verbringen, während der Pandemie gestiegen ist, wird uns oft gesagt, dass die Sexspielzeugindustrie stabil ist. In der Tat sind unsere Umsätze stetig gewachsen, wenn auch ohne große Sprünge. Aber während die Verkäufe in Online-Erwachsenenläden und auf E-Commerce-Websites wie Amazon stark gestiegen sind, kam es auch zu Schließungen von Sexshops auf der ganzen Welt.
J-BIG: Was sind Ihre Visionen und Pläne für die Zukunft?
Satoshi Chatani: Zunächst einmal müssen wir dringend unsere Mainstream-Vertriebskanäle weiter ausbauen. Wir haben in Europa noch keinen TENGA-Store wie den im Hankyu Men’s Department Store in Yurakucho, Tokio. Aber wir haben festgestellt, dass es vor allem in Großbritannien, Spanien und Dänemark eine Nachfrage gibt, so dass wir planen, Pop-up-Stores, Concept Stores und Aroma-Wellness-Stores zu entwickeln.
Darüber hinaus werden wir weiterhin Produkte entwickeln, die den Menschen ein Aha-Erlebnis bieten, sie überraschen und erfreuen. Um dies zu erreichen, werden wir immer bereit sein, Herausforderungen anzunehmen, professionell zu handeln und die einzigartigen Persönlichkeiten unserer Mitarbeiter, Kunden und aller anderen Interessengruppen mit Freude zu respektieren. Nur mit Leidenschaft sind wir in der Lage, die Gesellschaft zu verändern. In diesem Sinne setzen wir uns dafür ein, das sexuelle Leben von Menschen auf der ganzen Welt zu bereichern und „eine Welt zu schaffen, die von Liebe und Freiheit überquillt“.