Eine der am stärksten von der Pandemie betroffenen Branchen, in Japan und weltweit, war die Reisebranche. H.I.S., einer der führenden Reisebüro-Konzerne Japans, hat diese kritische Situation frühzeitig erkannt und sich in Europa bereits sechs Monate nach dem weltweiten Ausbruch der Corona-Pandemie von einem Reisebüro in einen Concept Store für japanische Lebensmittel gewandelt. Björn Eichstädt und Camilla Shiori Oura-Müller haben sich mit Tetsuya Kawabata, dem Geschäftsführer der H.I.S. Deutschland Touristik GmbH, der die Krise als Chance nutzte, unterhalten. Warum der alte und der neue Geschäftsbereich sich ähneln, wie man in Krisen in die schnelle Umsetzung kommt, wie die Mitarbeiter reagierten und was die Pläne für die Zukunft sind – darum geht es in diesem Interview.
J-BIG: Bitte erzählen Sie uns zunächst etwas über die Geschichte von H.I.S.
Tetsuya Kawabata: H.I.S. wurde 1980 in Tokyo von Hideo Sawada gegründet. Heute ist er der Vorsitzende des Unternehmens. Damals war der Preis für ein Flugticket von Japan ins Ausland mit 500.000 bis 700.000 Yen extrem hoch, so dass internationale Reisen für viele Menschen unerschwinglich waren. Herr Sawada hat jedoch einen Weg gefunden, günstige Flugtickets für 140.000 bis 280.000 Yen anzubieten, die auf seinen Erfahrungen als Student der Universität Mainz in Deutschland basierten, von wo aus er als Backpacker mehr als 50 Länder bereiste. Nach der Gründung folgte eine Zeit, in der die Zahl der internationalen Reisen stark zunahm. Und innerhalb von etwa 10 Jahren waren wir in der Lage, preiswerte Reisen in praktisch alle Ecken der Welt anzubieten. Unser Unternehmen wurde H.I.S. genannt, ein Akronym, das für „Hide International Service“ – nach dem Vornamen unseres Gründers – stand, mit der Hoffnung, dass mehr Japaner ins Ausland gehen. Aktuell haben wir auch die Bedeutung „Highest International Standards“ hinzugefügt.
J-BIG: Am Anfang hat H.I.S. also günstige Flugtickets und Reisen angeboten.
Tetsuya Kawabata: Richtig. Ursprünglich waren wir eine Agentur, die Flugtickets und lokale Hotels vermittelte und Reisenden attraktive Touren anbot. 1996 gründeten wir die Fluggesellschaft Skymark Airlines, die aktuell drittgrößte Fluggesellschaft Japans. Mittlerweile gehört sie aber nicht mehr zu unserer Gruppe. Im Jahr 2010 haben wir Huis Ten Bosch, einen Themenpark in der Präfektur Nagasaki, in eine Tochtergesellschaft umgewandelt und profitabel gemacht. Wir entwickeln auch unser Hotelgeschäft in Japan und im Ausland, einschließlich des weltweit ersten „Henna Hotel“, in dem Roboter die Gäste bedienen. Auf diese Weise wollten wir einen neuen Mehrwert bietet, der über reines Maklergeschäfts hinausgeht, sowie einen kompletten One-Stop-Service anbieten, mit dem sich Reisende rundum wohl fühlen.
Zum Zeitpunkt der Gründung waren bereits mehrere klassische Unternehmen im Reisemarkt unterwegs und H.I.S war als Start-up-Unternehmen positioniert. Der Unternehmergeist unserer Mitarbeiter ist nach wie vor lebendig, und unser Unternehmen zeichnet sich durch die Bereitschaft aus, sich neuen Herausforderungen zu stellen. Wir glauben, dass sich diese Einstellung auch auf unsere Kunden überträgt.
J-BIG: Wie ging es dann weiter mit Hotels und Themenparks?
Tetsuya Kawabata: In unserem Hotelgeschäft haben wir neben den Aktivitäten in Japan 41 Einrichtungen unter acht Marken in sechs Ländern, darunter Guam, New York und Taiwan. Das erste Henna Hotel wurde 2015 in Huis Ten Bosch eröffnet und war so erfolgreich, dass es auf ganz Japan ausgeweitet wurde. Das Hotel erregte in der Corona-Krise auch insofern Aufmerksamkeit, als der berührungslose Service relevant wurde, da das Personal an der Rezeption aus Robotern besteht.
Weitere Schritte sind im Gange, um das im Reisegeschäft erworbene Wissen auf eine Vielzahl anderer Unternehmungen anzuwenden. Für viele Menschen gehört es zu den schönsten Seiten des Reisens, die lokalen Köstlichkeiten zu probieren. Daher konzentrieren wir uns momentan auf den Lebensmittel-, Getränke- und Landwirtschaftsproduktesektor, indem wir zum Beispiel ein Restaurant für Soba-Nudeln eröffnen, die im Ausland noch weniger bekannt sind als Sushi und Ramen, und indem wir Versuche zum Anbau von Mini-Tomaten durchführen.
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J-BIG: Warum haben Sie kürzlich Ihr Firmenlogo erneuert?
Tetsuya Kawabata: Das neue Logo unterscheidet sich von dem bisherigen alphabetisch geprägten Schriftzug durch ein einfaches Motiv aus einem Quadrat und einem Kreis hinter der Wortmarke „HIS“. Wir haben eine Form gewählt, die es den Menschen ermöglicht, H.I.S. an seiner Silhouette und nicht nur an seinen Buchstaben zu erkennen, und die auch denjenigen vertraut sein kann, die das lateinische Alphabet nicht lesen können.
J-BIG: Wie groß ist Ihr Unternehmen weltweit?
Tetsuya Kawabata: Wir sind in 60 Ländern und 112 Städten mit 291 Filialen vertreten. Aufgrund der Corona-Krise mussten wir uns aus etwa 10 Ländern zurückziehen. Erfreulicherweise konnten wir die Zahl der Niederlassungen in Deutschland aufrechterhalten.
J-BIG: Wann wurde Ihnen klar, dass Sie nach dem Start der Corona-Krise im Jahr 2020 die Ausrichtung Ihres Unternehmens ändern mussten?
Tetsuya Kawabata: Als ich im Frühjahr 2020 zur deutschen Tochtergesellschaft versetzt wurde, gab es eine unbegründete Hoffnung, dass sich die Corona-Situation bald wieder verbessern würde, aber nach etwa sechs Monaten begannen wir, über konkrete Alternativen zum Reisegeschäft nachzudenken. Es gab Einreisebeschränkungen und Lockdowns, die es schwierig machten, etwa von Japan nach Deutschland oder in die Gegenrichtung zu reisen. In der Hoffnung, dass die Menschen sich auf den Tag freuen, an dem sie wieder reisen können, nutzten wir die Einrichtungen und den Platz der Filialen, die früher als Büros für Reiseberatung fungierten, und eröffneten im November 2020 den ersten H.I.S. JAPAN PREMIUM FOOD & TRAVEL Concept Store für japanische Lebensmittel und Sake in Berlin. Nachdem wir überlegt hatten, was wir tun könnten, da wir ein Reisebüro sind, gründeten wir diesen Laden mit dem Ziel, einen Beitrag für künftige Reisen nach Japan zu leisten, und zwar als Ort, an dem die Besonderheiten der verschiedenen Regionen Japans durch japanische Lebensmittel vermittelt werden können. Wenn zum Beispiel deutsche Kunden bei uns Sake aus der Präfektur Niigata kaufen und ihn köstlich finden, denken sie vielleicht: „Wenn ich das nächste Mal nach Japan reise, möchte ich das „echte“ Niigata besuchen“. Wir erhoffen uns auf diese Weise Synergien mit unserem ursprünglichen Reisegeschäft. Und die Eröffnung verlief reibungsloser, als wir erwartet hatten. Wir konnten uns zügig auf die Eröffnung vorbereiten, indem wir zum Beispiel die Regale, in denen wir die Unterlagen aus unserer Zeit als Reisebüro aufbewahrt haben, als Regale für Lebensmittel-Produkte wiederverwendet haben. Heute gibt es sechs Concept Stores in Europa, von denen sich vier in einem der ehemaligen Büros von H.I.S. befinden.
In einer Notsituation wie der Corona-Krise müssen wir unser Geschäft anders ausrichten, um den Umsatz zu steigern und unsere Mitarbeiter zu schützen. Außerdem können wir dank dieser Concept Stores auch unsere Büros unterhalten. Derzeit fördern wir das Geschäft in ganz Europa, beginnend mit Deutschland, und hoffen, es auf Filialen in der ganzen Welt ausweiten zu können.
J-BIG: Erzählen Sie uns etwas über Ihren Start in Deutschland.
Tetsuya Kawabata: H.I.S. kam 1990 erstmals nach Deutschland. Das war vor 32 Jahren. Wir haben unsere erste Niederlassung in Frankfurt gegründet, weil es dort einen Hub-Flughafen gibt. Heute haben wir in Deutschland Standorte in München, Berlin und in geringerem Umfang in Düsseldorf. Kurz nach der Wiedereröffnung des Berliner Büros im Jahr 2019 begann leider die Pandemie. Der Wechsel vom traditionellen Reisegeschäft war nicht einfach. Aber gerade, weil der Berliner Standort noch nicht voll etabliert war, konnten wir ohne großes Zögern die Richtung vom Reisebüro zum Concept Store für japanische Lebensmittel ändern.
Vor der Corona-Krise waren insgesamt fast 30 Personen für H.I.S. Deutschland tätig. Heute wird der Concept Store komplett von bereits vor Corona angestelltem Personal betrieben. Viele der japanischen Mitarbeiter leben hier in Deutschland schon länger und sprechen Deutsch.
J-BIG: Wie ist die Idee für den Concept Store ursprünglich entstanden?
Tetsuya Kawabata: Die Idee stammt tatsächlich aus unserem deutschen Standort. Natürlich brauchten wir die geschäftliche Genehmigung der japanischen Zentrale, aber die gesamte Belegschaft in Deutschland arbeitete zusammen, um die Idee eines Concept Stores zu verwirklichen.
Ich selbst bin erst seit kurzer Zeit in Deutschland, aber als ich anfing, hier zu leben, hatte ich das Gefühl, dass es nicht viele Orte gab, an denen man japanische Lebensmittel kaufen konnte. Deshalb hatte ich große Hoffnungen, dass der Ansatz eines Concept Stores, der authentische japanische Lebensmittel für lokale Kunden anbietet, gut passen würde. Es ist nicht so, dass wir mit den bereits seit langem bestehenden, etablierten japanischen Lebensmittelgeschäften konkurrieren wollen. Wir wollen auch weiterhin das Erlebnis „Reisen“ anbieten und der Concept Store soll als zusätzlicher Wert gelten. Im Moment sind die Transportkosten sehr hoch und es gibt viele Herausforderungen, aber wir glauben, dass dies eine notwendige Maßnahme war, um die Zeit zu überstehen, in der wir aufgrund der Corona-Krise in den Seilen hingen.
J-BIG: Haben die Mitarbeiter der deutschen Filiale den Wechsel vom Reisebüro zum japanischen Lebensmittelladen bereitwillig akzeptiert?
Tetsuya Kawabata: Ich habe unseren Mitarbeitern jeden Tag gesagt, dass unser Job ein Dienstleistungsgeschäft ist, bevor es ein Reisegeschäft ist. Das, was wir unseren Kunden anbieten, hat sich von „Reisen“ zu „Lebensmitteln“ gewandelt – mehr nicht. Die Produkte, die wir verkaufen, und die Art und Weise, wie wir sie verkaufen, mögen unterschiedlich sein, aber die Grundwerte, die wir verfolgen, sind dieselben. Die Mitarbeiter unserer deutschen Niederlassung lieben Japan und wollen die Attraktionen des Landes vorstellen. Vielleicht ist das der Grund, warum sich keiner unserer Mitarbeiter jemals geweigert hat, im Concept Store zu arbeiten.
J-BIG: Wie arbeiten Sie mit der japanischen Zentrale zusammen?
Tetsuya Kawabata: Wir haben täglich Online-Meetings mit unserer Zentrale in Japan. Neben den Verantwortlichen der einzelnen Präfekturen gibt es viele Abteilungen. Deshalb versuchen wir immer, Ideen über neue Lebensmittel oder reiserelevante Informationen auszutauschen.
„In Japan gibt es viele Menschen, die es lieben, gutes Essen und Restaurants zu finden und mit anderen zu teilen. Ich möchte diese japanische Idee von Service und Kulinarik auf neue Geschäftsbereiche übertragen.“
J-BIG: Glauben Sie, dass die Zahl der Reisenden im Ausland wieder auf das frühere Niveau zurückgehen wird?
Tetsuya Kawabata: Um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass die Größenordnung in den nächsten vier oder fünf Jahren komplett zurückkommen wird. Es ist unvermeidlich, dass sich die Form von Geschäftsreisen im Ausland oder globale Geschäftsentwicklungen in Zukunft ändern werden, da Online-Meetings immer üblicher geworden sind. Andererseits ist es nach wie vor sehr wichtig, die Dinge mit eigenen Augen zu sehen. Ich hoffe, dass noch viele Menschen die Erfahrung machen wollen, „echte“ Dinge zu erleben.
Das Konzept von H.I.S. JAPAN PREMIUM FOOD & TRAVEL ist „Essen“ und „Reisen“, und wir möchten dieses Konzept in Zukunft in Deutschland weiter ausbauen, auch indem wir die Idee nach Japan zurückbringen. Dies wollen wir zum Beispiel dadurch erreichen, dass wir „Premium“-Lebensmittel aus Italien oder Spanien etc. für die Menschen in Japan oder selbst in Deutschland verfügbar machen. In Japan gibt es viele Menschen, die es lieben, gutes Essen und Restaurants zu finden und mit anderen zu teilen. Ich möchte diese japanische Idee von Service und Kulinarik auf neue Geschäftsbereiche übertragen. In diesem Zusammenhang sind die Vertriebskanäle, die wir als Reisebüro entwickelt haben und die eng mit jeder Präfektur in Japan und mit Ländern und Regionen in der ganzen Welt verbunden sind, sowie unsere Fähigkeit, die Attraktivität und die Geschichten unserer Produkte zu erzählen, das, was uns von gewöhnlichen Supermärkten unterscheidet – und unsere Stärke mit unseren vielen Filialen, das auch vor Ort umzusetzen.
Am Anfang hätte uns niemand vertraut, wenn wir ein Concept Store eröffnet hätten, der sich auf hochwertige Lebensmittel mit europäischen Zutaten z.B. spezialisiert. Deshalb wollen wir erstmal damit beginnen, mehr Fans im japanischen Lebensmittelbereich zu bekommen.
J-BIG: Bieten Sie auch Reisekonzepte innerhalb Europas für Japaner in Deutschland an?
Tetsuya Kawabata: Unsere Kunden sind nicht nur Japaner, die in Deutschland leben. Unsere Hauptzielgruppe sind alle in Deutschland lebenden Menschen. Wenn zum Beispiel eine deutsche Person eine Reise nach Frankreich bei H.I.S. buchen möchte, kann sie das auch tun – H.I.S. hat immer noch das Image eines „Reisebüros für Japaner“, aber wir wollen vermitteln, dass wir Dienstleistungen auf globaler Ebene anbieten. Und ich würde mich freuen, wenn sich die Erkenntnis, dass Japaner:innen gut darin sind, immer ihre Fühler auszustrecken und qualitativ hochwertige Waren und Dienstleistungen zu entdecken, auch in Deutschland und Europa ein wenig verbreiten würde.
J-BIG: Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?
Tetsuya Kawabata: Zunächst einmal planen wir, unsere Reiseleistungen zu digitalisieren. Bisher war es noch üblich, dass die Kunden ein Reisebüro aufsuchten, direkt mit einem Reiseveranstalter sprachen und eine Reise buchten, aber durch die Corona-Krise ist die Online-Buchung noch beliebter geworden. Um mit diesem Trend Schritt zu halten, konzentrieren wir uns jetzt auf die Einführung eines eigenen Online-Buchungssystems.
Und natürlich brauchen wir Zeit und Arbeitskräfte, um den Concept Store am Laufen zu halten. Wir hoffen aufrichtig, dass wir unser Wissen und unsere Kontakte als Reisebüro nutzen können, um all jenen, die H.I.S. besuchen, köstliche Lebensmittel und den bestmöglichen Service zu bieten, und freuen uns auf den Tag, an dem sie wieder vollständig frei durch die Welt reisen können!