Bei Software und Digitalem unterstellt manch einer Japan eine Schwäche gegenüber der seiner Perfektion in der Hardware. Dabei hat das Land eine extrem spannende digitale Szene der neuen Generation, die sich seit einiger Zeit auch international bemerkbarer macht. Einer der Pioniere ist die Digital Design Beratung Goodpatch, die seit 2014 auch in Deutschland aktiv ist. Wir trafen Gründer Naofumi Tsuchiya und Boris Jitsukata, den ehemaligen Deutschlandchef und jetzigen Verantwortlichen für das internationale Business von Goodpatch im Headquarter des Unternehmens in Tokyo. Und haben viel über die Hintergründe des Unternehmens erfahren.

J-BIG: Erzählen Sie bitte die Geschichte hinter Goodpatch – wie ist das Unternehmen entstanden?
Naofumi Tsuchiya: Ich habe Goodpatch vor etwa 11 Jahren gegründet. Mit Design hatte ich selbst zunächst gar nichts zu tun – in meiner ersten Karriere war ich im Vertriebsbereich tätig. Dann wechselte ich jedoch in den Webdesign-Bereich und arbeitete für viele Dutzend japanische Firmen an deren Websites. Mein eigentlicher Traum war aber, bis zum Alter von 30 Jahren ein eigenes Unternehmen gegründet zu haben. Dann kam ein wenig Zufall dazu, weil ich mit 27 Jahren eine Erbschaft machte – meine Großmutter hat mir etwa 5 Millionen Yen hinterlassen. Mir war klar, dass das der Grundstock für meine Firma werden würde.
Ich habe etwa zu dieser Zeit einen Vortrag von Tomoko Namba, der Gründerin der japanischen Digitalfirma DeNA gehört. Sie betonte, dass sich japanische Unternehmen internationalisieren, dass sie multinational werden müssten. Ein starker Impuls für mich – der mich im März 2011 ins Silicon Valley getrieben hat, am 10. März, einen Tag vor der großen Erdbeben- und Tsunami-Katastrophe in Japan. Das hätte ich einen Tag später wohl nicht mehr gemacht. Im Silicon Valley habe ich viele Kontakte gemacht, habe mir Start-ups wie Airbnb oder Instagram angeschaut – und was deren User Interfaces und User Experiences für den globalen Erfolg ausgemacht haben. Als ich zurück nach Japan flog war mir klar: das sollte mein Thema werden.
J-BIG: Warum haben Sie das Unternehmen Goodpatch genannt?
Naofumi Tsuchiya: Als ich in San Francisco war, habe ich einen Co-Working-Space kennengelernt, der Dogpatch Labs hieß. Hier wurde Instagram gegründet. Das hat mich damals sehr inspiriert, denn solche Co-Working-Spaces gab es in Japan damals nicht – im Silicon Valley sind sie allerdings wie Pilze aus dem Boden geschossen. Ich habe dort erlebt, wie viele unterschiedliche Menschen in besonderer Atmosphäre an Start-up-Ideen arbeiteten, gemeinsam aßen oder auch mal nur zusammen abhingen. Das war etwas, das mir sehr gefiel. Diese Kultur schien mir ein weiterer Erfolgsfaktor für diese Unternehmen. Und so wurde eine verdrehte Katakana-Version von Dogpatch zu Goodpatch. Da “patch” verbinden bedeutet, hoffe ich, dass Goodpatch dafür steht, unterschiedliche Dinge, Menschen und Technologie oder Japan und die Welt, miteinander zu verbinden.


J-BIG: Wie hat sich das Unternehmen dann entwickelt?
Naofumi Tsuchiya: Unser Geschäftskonzept ist darauf ausgerichtet, dass wir UI/UX für Start-ups und größere Unternehmen mit Beginn der Strategiephase unterstützen. Wir sind also keine reinen Umsetzer. Den ersten Wendepunkt nach der Gründung gab es mit einem Start-up-Projekt einer Gründung von Studenten der Tokyo University – Gunosy. Das haben wir umsonst unterstützt – das Resultat schlug ein und wurde in Japan auch medial sehr verbreitet. Goodpatch wurde oft erwähnt in diesem Kontext – und so bekamen wir erste Anfragen auch von großen Unternehmen. Ein weiteres wichtiges Projekt war eine App für das FinTech-Unternehmen „Money Forward“ – ein weiterer Erfolg in Japan. Tolles digitales UI/UX in Japan hieß künftig: Zusammenarbeit mit Goodpatch. Nach nur fünf Jahren waren wir auf 100 Mitarbeiter gewachsen.
J-BIG: Was ist dann passiert?
Naofumi Tsuchiya: Dann gab es erstmal eine schwere Krise. Wir hatten uns innerhalb eines Jahres von 50 auf 100 Leute verdoppelt. Aber mit dem starken Wachstum kamen die Probleme. Das Management kam bei all dem Wachstum mit den Strukturen nicht hinterher. Mitarbeiter waren unzufrieden, sie beschwerten sich, sie kündigten. Das ging zwei Jahre lang so. Jeden Monat haben uns zwei bis drei Leute verlassen. Die Fluktuation war bei etwa 40 Prozent. Wir konnten das zwar immer wieder auffüllen, aber uns war klar: wir müssen uns nochmal neu aufstellen. Und unsere Grundwerte in der ganzen Organisation implementieren. Das hat tatsächlich geklappt. Und wir konnten uns ab 2019 stabilisieren. Diese Krise war für mich persönlich unheimlich wichtig und ich habe diese Phase detailliert in einem öffentlichen Blog auf Japanisch dokumentiert. Diese Inhalte haben über 150.000 Leser generiert – darunter häufig Gründer von Start-ups, die in ähnliche Situationen gekommen waren. Das hat uns viele neue Kontakte und auch Aufträge in diesem Umfeld gebracht. Nach der Stabilisierung kam 2020 dann ein neuer Höhepunkt: Mitten in der Corona-Krise sind wir in Tokyo an die Börse gegangen.

J-BIG: Kurz bevor es mit den Tumulten losging, wurde das erste internationale Studio eröffnet. Ausgerechnet in Berlin, in Deutschland. Wieso das?
Naofumi Tsuchiya: Als ich Goodpatch gründete gab es zwei iPhone-Apps, die ich wirklich gerne nutzte und die mir gut gefielen. Die eine war Wunderlist, die andere SoundCloud. Als ich mich ein bisschen intensiver mit beiden beschäftigt habe, stellte ich fest, dass beide Start-ups hinter diesen Apps in Berlin saßen. Dazu kam dann ein Zufall: Mein späterer Mitarbeiter Boris Jitsukata bewarb sich bei mir. Er war der erste Deutsche, den ich kennenlernte – und er konnte eigentlich kein Japanisch, weshalb wir das Job-Interview mit Dolmetscher durchgeführt haben. Er studierte damals an der Keio Universität in seinem Master und hatte dann erstmal einen Teilzeit-Studenten-Job bei uns. Dann ist er nach St.Gallen für seinen MBA gegangen. Schließlich entschied er sich dafür, danach in Vollzeit bei uns anzufangen, obwohl er auch Angebote von großen Firmen in der Schweiz hatte. Gemeinsam haben wir die Internationalisierung geplant, wir haben über San Francisco gesprochen – aber schließlich haben wir uns für Deutschland entschieden.
Boris Jitsukata: Ich habe zuerst München vorgeschlagen, weil die Stadt ja ein wichtiger deutscher Wirtschaftsstandort ist. Naofumi hat Berlin vorgeschlagen, aber da gab es aus meiner Sicht eigentlich „nur“ Start-ups.
Naofumi Tsuchiya: Ja, Berlin war ein wenig schäbig. Aber eben auch arm, aber sexy. Wir waren mit Start-ups in Japan gewachsen, warum sollten wir nicht auch das Gleiche in Deutschland versuchen? Und dann hat sich Boris überzeugen lassen, dass es Berlin sein sollte.

J-BIG: Sie sind dann aus Japan zurück nach Deutschland gegangen. Wie lief das ab?
Boris Jitsukata: Ich habe meinen Koffer gepackt und ich musste das alles von Null aufbauen. Am Tag meines Rückflugs ging erst die erste englischsprachige Website von Goodpatch live. Gerade rechtzeitig, um meine ersten Schritte in Deutschland inhaltlich zu unterstützen. Ich bin dann erstmal bei einem Start-up-Gründer untergekommen, der auch mit dem Atlantic Labs Venture Network zusammenhing. Das war auch ein erster toller Kontakt – denn aus dem Ökosystem dieser Start-ups konnten wir ein erstes Portfolio aufbauen. Gunosy oder Money Forward – das war in Japan ein Begriff, aber in Deutschland kannte natürlich niemand diese Firmen. Und damit waren sie als Referenzen in Deutschland eigentlich wertlos.

J-BIG: Wie konnte Goodpatch sich denn positionieren – auf ein japanisches Design-Studio hat ja in Deutschland wahrscheinlich niemand gewartet?
Boris Jitsukata: Ich habe erstmal gar nicht betont, dass wir aus Japan sind. Ich habe mich auf unser Portfolio für Start-ups verlassen. Und ich habe im Prinzip die Firma in Japan als Blaupause genutzt. Ich wusste genau wie man ein Büro einrichtet oder welche Methoden man anwenden muss. Das darf man nicht unterschätzen – das sind Dinge, die wirken wie Kleinigkeiten, aber es macht einen riesigen Unterschied, ob man eine Firma von Null startet oder ob man auf ein existierendes Modell zurückgreifen kann. Von den Office-Stühlen bis zur Workshop-Methode. Es ging also auch um eine Transferleistung.
J-BIG: Wie hat sich die Firma dann in Deutschland entwickelt?
Boris Jitsukata: Am Anfang war es schwer. Denn als ich nach Deutschland gekommen bin, da ist Goodpatch in Japan gerade in die große Krise – mit umfassendem Neuaufbau – gekommen. Ich hatte gedacht, ich bin in Deutschland und Japan wächst weiter enorm – und dann bekomme ich viel Unterstützung aus Tokyo. Aber nein – in Japan gab es andere Probleme und ich war erstmal auf mich selbst gestellt. Und dann kam Naofumi nach Deutschland, in einer schwierigen Zeit für Tokyo, und war begeistert. Weil ich hier ein kleines, aber am Anfang natürlich gut laufendes Business aufgebaut habe. Wir waren ja lange vor der Phase der Wachstumsschmerzen. Und das fühlte sich natürlich alles wieder wie ein unbelastetes Start-up an. So haben wir Goodpatch in Berlin zu einer Art Versuchslabor für unsere globale Unternehmenskultur gemacht. Auch für Formen des Managements, für Selbstorganisation, für Performance-Evaluation – und das, was funktionierte, das haben wir dann nach Tokyo zurückgetragen.

J-BIG: Wie ging es weiter mit dem Berliner Team?
Boris Jitsukata: Wir haben einerseits mit Berliner Start-ups gearbeitet, konnten aber andererseits über Tokyo auch große japanische Firmen akquirieren, zum Beispiel aus dem Automotive-Bereich. Die konnten wir dann mit unserem Berliner Studio und der deutschen Eigenschaft des „Benzins im Blut“ – also deutscher Autoexpertise – begeistern. Dann gab es auch ein Studio in Paris für Renault-Nissan, das dann allerdings in der Corona-Krise geschlossen werden musste. Die Automobilfirmen haben sehr schnell auf die Krise reagiert.
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J-BIG: Sie werden immer eine japanische Firma mit Auslandsaktivitäten sein. Was haben Sie in den letzten Jahren gelernt: wo kann ein japanisches Headquarter gewinnbringend mit seiner Auslandsniederlassung, in Ihrem Fall mit der deutschen Niederlassung, zusammenarbeiten? Wie kann man von den verschiedenen Standorten profitieren?
Boris Jitsukata: Goodpatch Tokyo ist so etwas wie die große Schwester von Goodpatch Berlin. Geschwister sind zwar immer Familie, aber sie wollen sich auch differenzieren, sie wollen nicht die gleichen Freunde haben und die gleiche Musik hören, aber sie helfen sich immer und sie haben auch viele ähnliche Eigenschaften und Einflüsse. Das trifft es glaube ich ganz gut: wir halten zusammen, aber wir sollten uns nicht zu viel vorschreiben. Am Ende sollte man in lokalen Märkten auch lokal agieren dürfen. Dafür ist diese „Blaupause“ nicht zu unterschätzen. Wenn man das auf eine Formel bringen müsste, die ultimative Erfolgsformel für das Zusammenbringen von japanischer und deutscher Arbeitsweise finden müsste, dann glaube ich: Japaner sind stark bei der „Schönheit im Prozess“. Bei den Deutschen ist der Output wichtig. Das braucht es aber beides. Und ich denke, wenn Japaner in oder mit Deutschland agieren, dann sollten diese Elemente zusammenkommen.


J-BIG: Sie sind seit Anfang 2022 wieder in Japan. Was bringen Sie mit zurück?
Boris Jitsukata: Ich habe ein Headquarter zu Anfang einer Firma kennengelernt, ich habe das Auslandsgeschäft über mehrere Jahre aufgebaut. Ich bin wieder zurückgekehrt. Mit diesen Perspektiven will ich japanischen Unternehmen dabei helfen, von Anfang an international zu denken. Gerade auch im digitalen Bereich. Denn: das Internet kennt keine Grenzen. Warum man erstmal den japanischen Markt bearbeiten muss und das Internationale dann wartet und noch mehr wartet und immer länger wartet, das will ich nicht so recht einsehen. Japanische Firmen haben so viel zu bieten. Sie sollten Ihr Business, gerade im Digitalen, einfach grenzenloser sehen.